Wertewandel
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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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Ein Scheinproblem namens Wertewandel

Eines Menschen Natur ist seine Kultur. In der Vielfalt dieser Aussage steckt unter anderem: Soweit sich unsere Kulturereignisse in die Umwelt erstrecken, soweit reicht auch die menschliche Natur ins Weltgeschehen. Umgekehrt wirkt die Natur (vor allem des Zufalls) in unsere Kultur hinein, bis über die Grenzen feststehender Kulturinstrumentarien. Beide Grenzen sind der Beweglichkeit willen durchlässig. Das Vorhaben, diese Grenze nur von unserer Seite durchlässig zu machen, ist schlichtweg schiefgegangen. Den qualitativ besseren Empfang bezahlen wir zurzeit mit hohen quantitativen Verlusten. Ein zunehmendes Weltverständnis allein reicht nicht aus, ein entsprechendes Ansteigen der Veränderungsfähigkeiten zu bewirken. Doch haben die Möglichkeiten nur scheinbar abgenommen. Der Zuwachs an Wissen, der praktischen Verwirklichung gegenübergestellt - die Problemlösung für die Informationslawine erfordert eine neue Qualität des Umgangs mit der Quantität des Wissens. Umfang und Arten der Neuerungen der letzten 100 Jahre, ihre Gesamtheit fand eine Welt vor, wo die weißen Flecken auf den Landkarten zu Punkten werden. Das Wissen der Neuzeit nimmt aufgrund der weltweiten Kommunikation immer schneller zu, ähnlich einem Hochdruckkessel, in dem die Temperatur durch bloßes Einpumpen von Luft immer höher getrieben werden kann. Dieser Prozess findet sein Ende erst in der Druckfestigkeit des Dampfkessels. Gerade dieser Umstand lässt die Rufe nach einem allgemeinen Bewusstseinswandel laut werden. Insgesamt wird von einem Wertewandel gesprochen. Nun mag jeder auf seine Art mit diesen schlagwortartigen Aufforderungen zur Bewusstseinsveränderung umgehen. Das Verlangen, ein Wertewandel müsse herbeigeführt werden, das ist sinnlos - denn die Wünsche haben schon längst Gestalt. Persönliche Eigenschaften, Lohnstrukturen und politische Grenzen sind keine geringfügigen Hindernisse auf dem Weg zu einem umfassenden Verständnis unserer Welt. Wir benutzen kulturelle Errungenschaften, wie zum Beispiel Transportmittel, Nachrichtentechniken und Bildungsstätten, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass uns die Frage verwundert: Wenn der seit fast 30 Jahren anwachsenden Skepsis, gegenüber unseren Kulturprodukten, kein allgemeiner, in der nahen Vergangenheit entstandener Wertewandel zugrunde liegt - was denn dann?

Sprüche wie, das neue Weltbild muss das alte ablösen, oder aber, der Mensch ist von Grund auf gut, unter den Namen Holismus, New Age, Ganzheitsdenken und vielen anderen, allgemein in die Mystik zielenden Ausdrucksformen, entsteht knapp unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit eine Bewegung, in der eine komplexe Vermengung von Glauben und Wissen stattfindet. Auch in der Vergangenheit wurden oft wissenschaftliche Erkenntnissen umfunktioniert, um sie in das Gerüst einer Glaubenslehre aufzunehmen. Auch Glaubenslehren, die sich selbst als exakte Wissenschaft bezeichnen, sind nicht neu. Neu am Holismus oder Ganzheitsdenken ist der Versuch, bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse und Glaubenslehren aus aller Welt zu einem kohärenten Ganzen gestalten zu wollen. Dies ist aber leider meist nur die Absicht, denn in der Tat sieht es so aus, dass jede Vermischung von Wissen und Glauben als legitim gilt, die sich deutlich von den abendländischen Traditionen abhebt. Die Entfremdung einer Idee zur Ideologie, bis hin zu der dogmatischen Doktrin, alle Rationalität zu verfluchen, dies erfordert, die Spreu vom Weizen zu trennen. Das heißt aber auch, mitzuarbeiten an der Aufgabe, unsere Flucht vor der Erkenntnis des Zufalls als Naturkonstante, zu sehen; wie sie - die Flucht- uns allen nicht gelingt, obwohl wir es alle, auf diese oder jene Art und Weise, versuchen. Die Vereinigung von Wissen und Glauben verlangt, den dabei auftretenden Widersprüchen standzuhalten. Glauben und Wissen sind nur im Glauben widerspruchsfrei erlebbar. Folglich ist eine Lehre, die Glauben und Wissen ohne Aufrechterhaltung bestehender Widersprüche vereint, eine Glaubenslehre und keine Wissenschaft. Jeder hat das Recht, wissenschaftliche Forschungsergebnisse als Untermauerung seiner Glaubenslehre zu benutzen. Wer aber seinen Glauben als Wissen verkauft, muss sich auch gefallen lassen, mit den Mitteln der Wissenschaft überprüft und kritisiert zu werden. Ein Bewusstseinswandel gegenüber dem Zufall fand längst statt - wir haben begonnen, die Zufälligkeit der Ergebnisse unseres eigenen Handelns zu erkennen. Der nächste Schritt wird viel schmerzhafter sein. Die Harmonie in der Evolution als Erscheinung akzeptieren, die ganzheitlich ist. Und der Misston in der Evolution ist die Intoleranz, die die Evolution gegenüber uns hat. Wie ein behütetes und getätscheltes Kind aufgrund einer Geistesverwirrung plötzlich zum Wechselbalg ernannt wird, so vernichtet die Evolution gnadenlos ihre eigenen Fehlentwicklungen. Harmonie der Evolution, Offenbarung, Nirwana und wie die Paradiese alle heißen, es fällt uns unglaublich schwer, unser Streben nach Gerechtigkeit und Glück als instinktlosen, weil bewussten Kampf ums Dasein zu sehen - wir schämen uns, den Baum der Erkenntnis abzuernten, unser eigenes Gleichgewicht der Kräfte zu bestimmen. Wir sagen, etwas in uns sei gleichzeitig Alles und Selbst, Gott und Teufel, und dergleichen mehr, dabei gibt es nur wenig zu entdecken. Alles Wissen und allen Glauben als unsere Erfindungen erkennen – so viel Selbstlob und Abgründe auf einmal, das ist die schwerwiegendste Entdeckung unseres Jahrhunderts.

27.5.2000