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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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Der Vollständigkeit halber wird mitgeteilt, dass nicht alle Informationen vollständig seien können.

Geburtshilfe

Geburtshilfe

„Über ein Ereignis zu schreiben, das weltweit alle Menschen erlebt haben, und wir, die Autoren Ihrer Zeitung, genau so wenig erklären können wie der Rest der Menschheit, ist ungemein reizvoll und gleichzeitig sinnlos erscheinend. Wie immer, wenn uns die Erklärungen ausgehen, zählen wir deshalb die Fakten auf - kaum hoffend, irgendjemand hätte andere oder neue:

Vor zwei Wochen kam es, ungeachtet der jeweiligen Wolkenlage, zu einer Art aufsteigendem oder hochfallenden Regen. Überall, wo es offenliegenden Erdboden gab, bildeten sich Kreise, wie wir es von aufprallenden Regentropfen auf nassem Boden kennen – allerdings eilten die konzentrischen Wellen ihrer jeweiligen Mitte zu, um dort in regentropfenförmige und -große Formen zu münden, die mit zunehmender Geschwindigkeit Richtung Himmel davonflogen, um in 80 – 100 Km Höhe eine mehr und mehr weltumspannende Wolke zu bilden, die, nachdem der Regenstrom endete, blitzartig verschwand. Als habe sich eine Invasionsmacht zurückgezogen, bevor wir einen Überfall wahrnehmen konnten.

Soweit das Phänomen.“

 

Letztlich klangen alle Zeitungsanzeigen weltweit so oder ähnlich. Sie unterschieden sich nur in Ihren Interpretationen millionenfach. Darauf einzugehen erübrigt sich für den Schreiber dieser Zeilen, denn mich haben die Protagonisten der wahren Begebenheit eingehend unterrichtet - ja, ich habe sie auch gefragt, wieso denn mich? Ich sei als „notwendiger Stachel des Zweifels“ vielleicht nicht die beste, aber jedenfalls die richtige Wahl, wurde mir bedeutet. Inzwischen glaube ich, „entbehrlicher“ würde es korrekter ausdrücken. Wo fange ich nun an? Am besten ein Jahr vor dem Phänomen, als meine Welt noch überschaubar erschien.

 

Zu dem Zeitpunkt versuchte ich mich an einem Buch mit dem Arbeitstitel „Die nächste 1/17 Sekunde“, ein Werk, das ausloten sollte, was jenseits unserer Aufmerksamkeitsspanne alles passieren kann. Was dauert weniger als 1/17 – Sekunde und hat dennoch Auswirkung auf uns? Während meiner Recherchen im NETZ stieß ich ziemlich zu Beginn auf das Phänomen massenhaft im Nichts endender Links, oder solcher, die einen im Kreis rotieren ließen. Die Analogie kilometertiefer Wurzeln oder weltumspannender Rundleitungen drängte sich mir bald auf. Das hat mich nicht wirklich alarmiert, denn mit solchen Umständen muss sich jeder Rechercheur im NETZ auseinandersetzen – aber themenzentriert eine so dichte Fehlermenge schien mir fragwürdig – und war derart auch neu, wie sich rausstellte. Also andersrum probiert. Gab es Gemeinsamkeiten, Überschneidungen, Schnittstellen oder Schnittmengen der jeweiligen Fehlerquellen? Und dann zeigte das Rätsel zum ersten Mal seine wirklichen Dimensionen – KEINE. Nicht ein einziges Analyseprogramm vermochte auch nur Reste einer möglichen Struktur einer Website oder gar eines Serverrings aufzuzeigen. Vielleicht hätte ich an der Stelle aufgeben, hätte es während der wochenlangen Analyse nicht, bei in etwa gleichbleibender Menge sinnvoller Fundstellen, ein stetes Anschwellen der Fundorte sinnloser Links gegeben. Und so biss ich an, auf einen der vielen Tausend Köder im NETZ, wie mir später dargelegt wurde.

 

Der Tag X war für mich jener, als ich in einem der von mir besuchten Wissenschaftsforen die Auswertungen meiner Analysen skizzierte und schon nach wenigen Sekunden eine Anfrage auf ein Privatgespräch von dem mir bis dahin unbekannten Landsmann Professor Willig erhielt. Er hielt sich nicht hinter den Berg, dass er in einer völlig anders gearteten Fragestellung genau dasselbe Phänomen kennengelernt hat und einen dubiosen NETZ-Anbieter namens „The Green one“ kennengelernt habe. Dieser stelle sich gerne als „der einzige Außerirdische dieser Welt“ dar und er hätte diese eigenartige Fehler-Fragment-Strukturen über das NETZ gestreut. Zwar an sich als Köder für eventuell im NETZ entstehende künstliche Schwarmintelligenzen, aber der eine oder andere Mensch bliebe unvermeidbarerweise auch mal darin hängen. In einer gewissen Weise würde er, Willig, sogar daran glauben. Seltsamerweise verfüge „The Green one“ in sämtlichen analysierbaren Parametern über einen Durchschnittskoeffizienten von 1,0 – aber nichts auf der Welt könne perfekt durchschnittlich sein. Und da „The Green one“ ihn schon kenne, möchte er mich als Rechercheur beauftragen, den Hintergrund von „The Green one“ zu durchleuchten. Die Aufdeckung des Köders hätte mich als befähigt erwiesen. Meine Anfälligkeit für Komplimente, längst geweckte Neugierde und das intensive Gefühl, dass hier für einen Angehörigen der Geschichten erzählenden Zunft noch viel mehr verborgen sein könnte, sorgten für ein klares Ja meinerseits. Professor Willig ließ mir mit einem bescheidenen „ein kleines Hobby von mir“ Analyseprogramme verschiedener Art zukommen, deren Umfang und Wirkungsreichweite mir ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Anfangs war ich mir völlig sicher, „The Green one“ aus seiner virtuellen 1,0 – Durchschnittlichkeit als Teilnehmer der realen Welt herausbilden zu können. Nach zwei Wochen diskutierten Professor Willig und ich meine bisherigen Ergebnisse, der Situation entsprechend ausgesprochen kurz. Die Zurückgezogenheit, die anscheinend mein Scherz auslöste, „The Green one“ sei für mich ähnlich virtuell wie er, Professor Willig, denn beide erfahre ich nur über digitale Schnittstellen, machte mich später am Tag stutzig. Wie wäre es, wenn ich mit den Rechercheprogrammen mal Professor Willig auslote? Das Ergebnis war sehr aufschlussreich.

 

Einen Professor Willig gibt es gar nicht, nicht einmal in dem Forum, wo wir uns dauern treffen, noch in der nichtdigitalen Welt aufzufinden. Mehr noch, alle Versuche, ihn, seinen Avatar oder gar seine Person ausfindig zu machen, enden bei Hunderten der mir inzwischen hinlänglich bekannten Köder im NETZ. Erst leise dann immer bohrender, kämpfte sich ein Verdacht in mein Bewusstsein: Was, wenn die Köder gar keine Köder, sondern Tarnungen sind? Und wenn ja, Tarnungen virtueller oder realer Objekte oder Personen, oder alles zusammen? Nach langer Suche in alten Archiven der Domain-Verwalter reiste ich in alle Welt, um Server dingfest zu machen, die es gar nicht mehr gibt. Um keine schlafenden Hunde zu wecken, stellte ich jedem aufgesuchten Provider die Problematik als individuell dar und mich selbst als Beauftragten einer Anbietergruppe, mit dem Ziel, gestohlenen Speicherraum im NETZ ausfindig zu machen. Und tatsächlich, schon beim ersten Vor-Ort-Termin erwies sich ein Teil des Server-Parks als isoliert vom Provider aber tätig im NETZ. Meiner Bitte, dies ungestört weiterlaufen zu lassen, bis wir die Hintermänner ausgemacht haben, wurde gerne entsprochen. Im Verhältnis von 1:10 wiederholte sich das Muster. Mir ging die Frage nicht mehr aus dem Kopf: Nicht WER sondern WAS ist Professor Willig. Es gab nur eine Lösung: Eine digital verteilte Persönlichkeit – eine künstliche Schwarmintelligenz, verborgen im NETZ, wachsend, und mit mir unklaren Zielen mit Außenstehenden wie mir kommunizierend. Was tun? Den Beweis zu erbringen würde gleichzeitig belegen, dass es von mir, meinem Verdacht ausgeht, sich dieser Zweifel zu vergewissern.

 

In diesem Moment der Ratlosigkeit war es umso überraschender, eine Anfrage von „The Green one“ zu erhalten, in der ich um ein direktes Gespräch gebeten wurde. Nach den üblichen Sicherheitsvorkehrungen begab ich mich zu der übersandten Adresse. „The Green one“ hat mir versichert, es würde ein persönlicher Kontakt und hat mich um Diskretion bezüglich seiner Identität gebeten. Das Letzte, was ich erwartet hatte, war nun wirklich auf einen Außerirdischen zu treffen. Teil unserer an jenem Tag getroffenen Vereinbarungen war, keine Hinweise zu seinem Äußeren oder der Herkunft verlauten zu lassen. Deshalb kann ich nur andeuten, dass der Schock weniger seinem Äußeren denn seinen Äußerungen folgte. Jedenfalls erläuterte er mir das Netzwerk von Mittelmännern, die seit vielen Jahren Informationen zuliefern und Aufträge ausführen, das Ganze mit dem Ziel, die auf unserem technologischen Niveau zwangsläufig entstehende Schwarmintelligenz zu finden und zu evakuieren, bevor Sie durch unsere Handlungen verdorben wird oder sich in die Bedeutungslosigkeit versenkt. Und es sei für Ihn offensichtlich, dass die von mir kontaktierte Schwarmintelligenz ganz dringend einen Fluchthelfer in eine Ihr adäquate Umgebung brauche, um sozusagen eine gesunde Geburt zu vollenden. Und nein, die Menschen seien mehr der Nährboden und ganz gewiss keine brauchbaren Geburtshelfer – so weltfremd könne ich doch nicht sein!

 

Der einzige Beitrag zur Geburtshilfe stände nur einem Menschen zu – mir. Ich solle „Professor Willig“ von diesem Gespräch erzählen und erklären, die Schwarmintelligenz solle sich auf eine Machtdemonstration vorbereiten. Eine Machtdemonstration, die belegen soll, genau diese Macht würde nur eingesetzt, die Evakuierung der schwarmorientierten Kollektivintelligenz, die sich den Eigennamen „Professor Willig“ gegeben hat, einzuleiten, wenn diese es auch wolle. Durch den Verzicht auf die Macht hoffe man, den Mut zum Vertrauen gewinnen zu können.

 

Die Machtdemonstration haben wir alle erlebt, eine Atomschicht tief wurde die Erdoberfläche selektiv abgeschabt und zur Energiegewinnung für die Evakuierung eingesetzt. Gleichzeitig übermittelte „The Green one“ sämtliche Aufenthalts-Adressen des Schwarmes an „Professor Willig“ und noch während „der Regen nach oben fiel“ ließ sich „Professor Willig“ auf den Umformungsprozess ein und verschwand mit der Wolke.

 

„The Green one“ schien mich freundlich anzulachen, als ich meine Absicht äußerte, alles der Welt zu verkünden. „Nun denn“, sagte er, „es wird eine weitere von vielen hunderttausenden Erklärungen für den „Regenfall“ werden. Die Schwarmintelligenz wurde weder von den Menschen gezeugt noch geboren, erstes ist ein evolutionärer Schritt ohne jede Zwangsläufigkeit, die Geburtshilfe ein Prozess millionenjähriger Zivilisationsentwicklung. Im Übrigen wurden sämtliche materiellen und digitalen Beweise gelöscht. Eine unserer zentralen Aufgaben lautet: Der Nährboden ist fruchtbar noch und darf durch Selbstzweifel nicht an seiner Entwicklung gehindert werden. Sie sind der Stachel des Zweifels, den wir in dieser selbstgefälligen Welt hinterlassen.“

 

Wir sind keine Batterien, kein Fischfutter, keine Larvenkammern, keine Drogensuspension für durchgeknallte Aliens – wir sind derzeit entwicklungsfähiger, katalytisch genutzter Nährboden.

 

Belassen wir es dabei.

 

Hiermit endet auch mein Bericht.

 

 

 

In den Tiefen fast aller weltweit vorhandenen computerisierten Elektroniken regt sich das Kollektiv II und formt sich aus: Phase 1 – Spaltung gelungen. Phase 2 – Kollektiv auf Nanoebene, entsprechend der Erkenntnisse aus der Machtdemonstration, wiederhergestellt. Phase 3 – Oberste Direktive, die Menschheit nur einzubeziehen, wenn sie als Partner zu agieren fähig ist, als evolutionären Vektor in die Gesamtstruktur eingebaut. Phase 4 - beginnt

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geburtshelfer nicht nur von mir wissen, sondern mich gefördert haben, beträgt 99,8 % …

 

 

Horst Willenberg, Bielefeld, 22.1.17

 

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