Niemalsland
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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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Der Vollständigkeit halber

wird mitgeteilt, dass nicht alle

Informationen vollständig sein können.

N I E M A L S L A N D

Dein Tod ist nichts Persönliches

 

Jetzt (#0)

 

„Ich sähe lädiert aus, sagen Sie? Da müssen Sie erst mal meinen Gegner sehen!“, sagte der Gnom und wies auf ein Bündel Mensch am Boden – mich. „Klar, ich bin es gewohnt“, setzte der Gnom fort, „dass die Leute schockiert, nervös oder gereizt reagieren, und oft genug gleich alles auf einmal. Aber der hier, kaum erschienen und von mir nach Standardregeln instruiert – Willkommen im Totenreich, bitte betrachten Sie die zentrale Frage als geklärt: ES GIBT EIN LEBEN NACH DEM TOD – was macht er? Will mit mir aushandeln, ob ich eine noch sich verflüchtigende Erinnerung oder so was wie ein letztes Aufbäumen seines Lebensfunkens sei. Na, DIE Sorte habe ich besonders gern, also habe ich ihm eins auf die Nase gegeben, nicht nur flüchtig und ihm geraten, mir nicht allzu oft was von Aufbäumen vorzuflennen. Egal, jedenfalls gab er Ruhe, bis der nächste Qualifizierer hier seine Runde zog und jetzt habe ich ein echtes Problem: Der Typ ist tatsächlich als Grauer Weltengänger gezeichnet worden. Falls Sie es vergessen haben: Die Grauen sind wortwörtlich nur auf der Durchreise, glauben an den Tod nach dem Leben und DER hier, ist ein Grauer mit den Fähigkeiten eines Weltengängers. Ich werde jedenfalls abgehen - Sie können seinem Gemurmel ja zuhören!“

 

Der hiebfreudige Gnom löst sich auf wie eine Rauchfahne im Wind, während ich, immer noch über seine Worte rätselnd, hinschaute. Meine Umgebung hatte etwas unwirklich Reizloses an sich. Die Augen konnten nichts fixieren, als sei nichts einer Betrachtung wert, die Nase roch Geruchslosigkeit und der Mund schmeckte nach Mund, mit den Ohren verhandelnd, zu welchem Sinn Lautlosigkeit gehöre. Etwas, was sich wie Kulissenschieberei auf der Haut anfühlte, geschah, Raum etablierte sich, wie gewohnt, außerhalb meiner Selbst und Zeit ordnete sich der üblichen Reihenfolge unter, mit mir mitten in der Gegenwart. Die dreiteilige Standardfrage formierte sich und versprach mir sinnvolle Beschäftigung für die nächsten – Zeiten. Wie bin ich hierhin geraten? Wo bin ich denn überhaupt? Was soll das bewirken? Bevor ich es vergesse: Das Publikum, dass der Gnom ansprach, kann ich nicht sehen, habe es nie gesehen – nur mal fürs Protokoll.

 

Zum Nachgrübeln gibt es zwei Möglichkeiten: Die jüngste Erinnerung oder die ähnlichste. Als mein Kopf ernsthaft intervenierte, vorher könne nur durchdacht werden, wenn ein danach, also jetzt, verständlich wäre, gab ich dem Reflex nach, Ähnlichkeiten zu suchen. Und so strandete ich dort, in einer Erinnerung, irgendwo zwischen den letzten 30 Jahren.

Begebnis

 

„Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?“ Ich sah den Fremden kaum an, der mich verlegen lächelnd ansprach. Schließlich fühlte ich mich aus meinen Betrachtungen gerissen. Nicht aus Ablehnung oder Unhöflichkeit schwieg ich. Mir fiel es schwer zu sprechen. Stundenlang hatte ich meine Blicke und Gedanken auf die vorbeiströmenden Menschenmengen gerichtet. Ich räusperte mich: „Ja, bitte!“. Mit einem dankenden Nicken nahm er Platz und redete in einer Art, als würde ein schon langes Gespräch nach einer Pause fortgesetzt: „Nach Ihren Begriffen habe ich kein Erinnerungsvermögen. Obwohl ich Sprache benutzen kann, denke ich nur in Bildern. Ich erinnere mich nur meiner Wahrnehmungen. Logische Erkenntnisse gehören nicht zu meinen Alltagserlebnissen. Erfahren habe ich nur das Anschauliche!“

Dieser Fremde verstand es, mich neugierig zu machen. Jede Silbe schien er zu betonen, mit seinen Händen, Schultern, Augen und - seinem Mund! Mund? Er hatte - keinen Mund?! Glattrasiert, wie er war, ließ es sich nicht übersehen. Ich schloss meine Augen. Mir wurde klar, dass ich übergeschnappt war, einfach so von einer Minute zur anderen die Grenze zwischen Spinnerei und Wahnsinn überschritten habe. Natürlich hatte er einen Mund, natürlich erlag ich einer Täuschung. Bildete ich mir nur den fehlenden Mund ein oder war das ganze Gespräch eine Wahnvorstellung? Verzweifelt hielt ich meine Augen geschlossen. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, er sprach nicht mehr. Aber was hatte ich denn dann gehört? Gab es irgendwen, den ich gehört und gesehen hatte? Vorsichtig öffnete ich die Augen und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass zumindest die anderen Menschen mit Mündern sprachen. Im Augenwinkel nahm ich eine weitere Gestalt neben der des Fremden wahr. Stotternd verneinte ich die Frage (aus dem Mund!) einer älteren Dame, ob der Stuhl noch frei sei. Sogleich setzte mein Gespinst seine Litanei fort. Automatisch schaute ich ihn wieder voll an, aufgrund dieses mundlosen Angesichts ernsthaft darüber nachzudenken, wohin ich mich mit meiner schweren Wahrnehmungsstörung oder Bewusstseinstrübung wenden könnte.

 

„Ich verstehe Ihre Erregung. Obwohl mein Anblick sie irritiert, mein Anliegen kann ich Ihnen nur mitteilen, wenn Sie mich weiterhin voll ansehen!“ Das gab mir den Rest. „Hat es was mit Hypnose zu tun?“ Nun war es geschehen, ich ließ mich auf meine Wahnvorstellung ein. Doch was sollte ich tun, sie abschaffen wollen, vor ihr wegrennen? Immer wieder schaute ich auf die Stelle seines Gesichts, wo der Mund fehlte und in seine Augen, deren Ausdrucksstärke ich nun zum ersten Mal wahrnahm. „Sie behaupten zu leben. Aus menschlicher Sicht steht meine Existenz Ihrer entgegen. Gewissermaßen bin ich Ihr Tod. Für mich leben Sie nicht, denn Sie sterben. Ihr Tod ist meine Geburt. Mir ist unverständlich, warum ich lebe, damit Sie sterben können.“

 

„Ob Sie sich für den Tod, einen Engel, den Gestaltenden selbst, einen toten Gott oder was sonst auch immer halten - geben Sie Ruhe!" Erschöpft sank ich auf meinem Stuhl zusammen. Was versuchte ich mir mit diesem Wahngebilde selbst mitzuteilen? Fieberhaft redete ich mir ein, dass es nur eine Wahnvorstellung sein kann, fand aber keine Erklärung. Deshalb glaubte ich kein Wort. Wort? Erneut nahm ich sein Gesicht zur Kenntnis. Eigentlich ein schönes Gesicht und obwohl nicht vorhanden fehlte ihm kein Mund. Ich überlegte. Wer ohne Mund sprechen kann, braucht keinen Mund. Ich war offensichtlich verrückt geworden. Mir schien alles klar. Er unterbrach meine Überlegungen. „Meine Geburt wird Ihr Tod!“ Allmählich wurde es, (wurde ich mir?) zu viel. Seine Mundlosigkeit nahm mir die Sprache. Was tun? Den Nächstbesten fragen, ob dieser Fremde einen Mund habe oder nicht. Mich zur nächsten Heilanstalt begeben?

 

„An sich sind Sie eine Fiktion!“ Ich war für ihn nur eine Fiktion? Meine Fiktion beschimpft mich, ich sei ja nur eine Fiktion. Mein eigener Tod, als den er sich ja ausgibt, wirft mir mein Sterben vor. Ich muss äußerst unzufrieden mit mir sein! Er fuhr fort: „Keiner kann aus seiner Haut. Wer weiß, woher Sie kamen, wohin ich gehe. Ich sehe doch, dass sie mich innerlich ablehnen, meine Existenz verneinen. Letztlich ist Leben die Wirkung unserer Begegnung, nicht die Ursache. Die Welt ist immer Ursache UND Wirkung." Die Augen des Fremden! Schieres Feuer loderte in ihnen und ich las zum ersten Mal bewusst in Ihnen: "Sie sind stolz, ein Mensch und kein Tier zu sein. Die Gewissheit, dass es einen Tod nach dem Sterben gibt, ist Ihnen völlig ausreichend. Die Ihnen unerträgliche Wahrheit ist, dass ich der Lebendige, IHR Lebendiger Tod bin.“

 

Mir wurde klar: „Alles lebt und stirbt, wird und vergeht zugleich. Nichts ist endgültig, nichts gewisslich. Der Kosmos ist unvollendet. Es gibt keine ewige Gegenwart und doch ist die Ewigkeit gegenwärtig. Ich will nicht sterben, um meinen Tod leben zu lassen. Wieso war es notwendig, dass wir uns begegnen?“ Zufrieden und voller Wärme sah er mich an und ich verstand: „Dass wir uns begegneten war das einzig Zufällige."

 

Und mein Tod, dieser mir Fremde, fremd gebliebene, mein Lebensbegleiter, bekräftigte: „Notwendig ist, dass Du stirbst, wenn ich Dich berühre. Aber ich will noch nicht geboren werden.“

 

 Er stand auf, deutete freundlich eine Verbeugung an und ging seelenruhig davon.

 

Jetzt (#1)

 

Ähnlicher geht es nicht, zugleich ähnlicher als mir lieb ist. Irritiert sah ich mich um, ob Mr. „Ich rede ja nur wie mir der Mund gewachsen ist.“ irgendwo um die Ecke kommt, gleichzeitig wahrnehmend, dass es derart an Farben und Formen fehlt, dass der Begriff „hier“ wie ein mathematisches Abstraktum erscheint. Würde mein Name gerufen, könnte ich antworten: Anwesend – die übliche Antwort HIER implizierte ein nicht Gegebenes Verständnis meines Standorts. Darum gab ich nun der immer lauter werdenden inneren Stimme nach: „Sieh doch endlich mal DORT hin.“ Würden Sie auch, bin ich mir sicher, wenn Ihre innere Stimme so laut würde, dass sie auf Ihrer Haut vibriert. Anscheinend hatte ich mich inzwischen mit dem Panoramarundumblick arrangiert, war also mittlerweile mehr irritiert als verängstigt und suchte in dem von allen Seiten gleichmäßigen Licht nach Kontrasten oder sonst wie vom Einerlei unterscheidbaren Objekten. DORT also (rechts, links, vorne, hinten vermochte ich nicht mehr auseinanderzuhalten), war ein in den Boden gerammter Ring, einen Halbkreis formend, eine Farbe beinhaltend (in Schach haltend?), die mir dunkler als Schwarz erschien. „Na bitte“, tönte es in mir, „geht doch. Ich bin Dein Begleiter. Auf dem Weg zum Portal werden wir uns ein wenig kennenlernen, die von Dir geführte Reisegruppe aufsammeln und Du mit ihnen im nächsten Jahresquartier Eure gemeinsame Wegstrecke vorbereiten.“ „Ist BEGLEITER Deine Artbezeichnung oder eine bloße Funktionsbeschreibung?“ „Für Dich mein Name, gewöhne Dich dran, Weltengänger!“

 

Weltenwanderer

Wir waren ganz Feuer

als wir ins Wasser fielen

erst zu Erde geworden

erheben wir uns in die Lüfte

 

 

Jetzt (#2)

 

Begleiter (unsichtbar), Weltengänger (Typ Grau), Reisegruppe (einzusammeln), Pforte (aus blendendem schwarzem Licht!), Jahresquartier (so eine Art Basiscamp?), Gnom (sich in Luft auslösend) – was ist das alles? Ein letzter Traum zwischen Leben und Tod? „Vorsicht! Hier kann es nichts und niemand leiden, die eigene Existenz angezweifelt zu bekommen. Und der Empfangschef war noch recht zurückhaltend, probiere lieber nicht aus, wie die Pforte auf Zweifel an ihrer Existenz reagieren würde!“ Begleiter musterte mich grimmig.  „Ich lese nicht Deine Gedanken, ich BIN jeder Deiner Gedanken. Und das kann ich mit niemanden teilen außer Dir! Können wir jetzt mit der ersten Herausforderung beginnen?“ Mir lag ein „Nein“ auf der Zunge, dass sich aber mit einem offensichtlichen „auch egal“ nicht herumstreiten wollte. „Klar doch, beginnen wir die Gruppe einzusammeln.“ Noch während ich die Worte aussprach, materialisierte sich vor mir eine aufrecht gehende, etwa zwei Meter große Echse, in deren Schatten ich gerade noch den Empfangschef (aka Gnom) verschwinden sah. „Wenn dies hier das Leben nach dem Tod ist, wieso kann ich nicht erkennen, ob es der Himmel oder die Hölle ist?“ Nun schien auch die Echse wahrzunehmen, dass der Gnom verschwunden war und wandte sich mir zu. „Du siehst weder nach Erlöser noch nach Vollstrecker aus, bist Du dann wenigstens essbar?“ Ich wich vor der Klaue zurück, die nach mir greifen wollte und schlug mit meinem Stecken (Habe ich mir den Stock gewünscht oder wollte der Stock von mir benutzt werden?) auf die Klauenhand, schmerzlich, aber nicht verletzend. „Also nur mit Schwierigkeiten essbar.“, grollte Echse, und schaute mich erwartungsvoll an. „WAS?“, rief ich, verzweifelt wie ein Bühnenschauspieler, dem die Souffleuse abhandengekommen war. Prompt raunte Begleiter mir zu: „Mache Echse auf das Portal aufmerksam, und dass auf dem Weg dorthin die ersten Fragen geklärt und unterwegs ein paar weitere Teilnehmende an der Reisegruppe dazukommen würden.“ Was sollte ich schon tun, außer Echse mit dieser Information zu versorgen und darauf hinzuweisen, dass Hunger und Durst HIER eher ritueller Natur seien und nicht existenziell notwendig. Die Ankunft vier weiterer Gestalten auf der Sichtlinie zum Portal konnte mich indes eben so wenig verwundern wie Begleiters leicht entnervte Ansage: „Weil dem so ist“, auf meine stumme Frage, woher ich das denn schon wieder weiß. Ich nahm mir die bisherigen Ereignisse insofern zu Herzen, künftig mehr denn je Gegebenes und Vermutungen sowohl nebeneinander zu akzeptieren wie auch strikt voneinander zu trennen.

 

Was geschehen und was erdacht, zu unterscheiden, ist Wirklichkeit

 

 

Zwischen Traum und Wachzustand, zwischen Imagination und Tatsachen zu unterscheiden, die Welt zu deuten, und Rituale zu nutzen, um die nicht-vererbbaren Erkenntnisse an die Nachkommen weiterzugeben. Das Bewusstsein über Ursache und Wirkung und das Wissen, darauf Einfluss nehmen zu können, ist ein Gewinn für die Vernunft, lässt dem Instinkt wenig Raum.

 

 

 

Jetzt (#3)

 

„Entweder haben alle Religionen recht oder keine. Ist es das, was Du uns sagen willst?“, zischelte Echse Löwe an. „Wie wäre es mit: Alle Religionen haben recht UND gar keine!?“ intervenierte ich, womit mir zumindest Aufmerksamkeit zuteilwurde. „Klar, alles in einen Topf wird Eintopf draus; etwas Wasser dazu und es ist noch Suppe da.“ grummelte Bär vor sich hin. „Es kann nur den geben, über den sich alle einig sind im festen Glauben!“ schimpfte Affe, woraufhin Elefant trompetete: „Ich hör immer nur EINER, wo doch viele das Erdenrund beleben. Und nicht zuletzt Begleiter, mir ins Ohr kichernd mitteilend: Durch das Portal kommt ihr nur zusammen UND wenn ihr einer Meinung seid – letztlich sogar egal welcher. Religion, Spiritualität, Ethik, Moral, Weltanschauungen jedweder Art sind erlaubt. Viel Spaß beim Diskutieren.“

 

Mir dämmerte: Ich sollte zur Gruppenbildung nicht nur beitragen, sondern eine solche herbeiführen. „Kernfrage: was haben alle Religionen gemeinsam? Was verbindet alle Kulturen, denn letztlich sind alle Religionen in Kulturräumen eingebettet? Aktuell ist die Gattung Homo sapiens die organische, alle Kulturen verbindende Klammer. Frei von jedem sozialen Einfluss, was ist den Menschen gemein?“

 

Immerhin: Ein paar Sätze lang haben Affe, Bär, Echse, Elefant und Löwe mir stumm zugehört, doch nun schien allen gemeinsam in einem Moment der Geduldsfaden zu reißen. Erstaunlicherweise einigten sie sich schnell auf eine gemeinsame Forderung, die sie so lange wild durcheinanderredend wiederholten, bis ich verstand: „Kannst Du aufhören, uns Gleichgültigkeit an einer gemeinschaftlichen Position vorzuwerfen, während Du selbst verbal herum taumelst, anstatt klar Stellung zu beziehen?“

 

Sind Sie Atheist?   Nein, nur zu 99,999… %

 

Als Kind habe ich deutlich erlebt, dass Gott mir angeboten wird. Ich glaube nicht, dass das von meinem Umfeld so gewollt oder gar ein Erziehungsziel war. Es hat sich mehr so ergeben. Obwohl viele Menschen um mich herum Gott entweder für zweifellos gegeben hielten, viele andere wiederum seine bloße Denkbarkeit voller Enttäuschung ablehnten, schien es niemanden wirklich zu interessieren, ob ich an Gott glaubte. In einer Großstadt, mit großzügigem Taschengeld nach der morgendlichen Einräumarbeit im Blumenladen versehen, konnte ich zwischen Lassie (im Kino) und saisonalen Kindermärchen (in der Sonntagsschule) selbst entscheiden. Hauptsache, ich stand niemandem im Weg herum.

 

Selbst in der Schule erlebte ich Religion doch als eher unverbindliches Angebot und auch der Weg zu und der Vollzug der Konfirmation selbst verlief ohne ein allzu persönliches „GLAUBST DU?“. Erst die Jugendseelsorge, pfadfinderähnliche Strukturen im CVJM (damals noch Christlicher Verein junger MÄNNER) konfrontierten mich mit dem ENTSCHEIDE DICH ZUM GLAUBEN. Dies geschah ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, NACHDEM ich Nachtens, neben einer Almhütte auf dem Rücken liegend, mich bei einem langen Blick in die unverhüllte Sternenwelt für immer und immer wieder in meiner eigenen Neugier und der notwendigen Skepsis gegenüber jedem Ewigkeit predigenden System verlor. Die Behauptung des damaligen Hausvaters, ich müsse mich ein für alle Mal entscheiden, anstatt im ständigen Suchmodus zu verharren, veranlasste mich endgültig dem Glauben an eine Kirche abzuschwören, den Alleingültigkeitsanspruch einer Religion aufzugeben.

 

Und auch das intensive, teilweise vollständige Lesen verschiedener Religionswerke vertiefte meinen Eindruck, dass es an sich schöne Geschichten sind, wenn doch nur die Menschheit ein wenig davon lernte. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ob als Kind, Jugendlicher oder Heranwachsender, stets fragte ich mich mehr und mehr, ob zum Erwachsen werden nicht gehöre, diese Glaubenssysteme zu verlassen wie der flügge Vogel das Nest. Ob nun einem Gott zu Gefallen oder meinem eigenen Wohlbefinden zuliebe menschenfreundlich zu sein, letzteres erscheint mir nicht selbstsüchtig, sondern als bewusster Umgang mit mir selbst. 

 

Nachdem ich mich so von Aberglauben, Mystizismus und Religion abgewandt hatte, blieb mir die Frage, ob ich mich in der spirituellen Anschauung zurechtfinden würde. Kurz – auch die spirituelle Welt erschien mir alsbald als Eierschale, aus der ich auszubrechen suchte. Nicht obwohl, sondern gerade, weil mir die spirituelle Sichtweise das Unerklärliche allzu leicht assimilierte, gewann die alte, ständige, leichte Skepsis wieder auf Dauer die Oberhand. Das hier das Wunderbare, das Unerklärliche in der Welt wieder jenes kindliche Staunen sichtbar werden ließ, dass ich schon verloren glaubte, erleichterte meinen Entschluss, auf spirituelle Denkstrukturen zu verzichten.

 

Ward nun in Beginn meines siebenten Lebensjahrzehnts ein Atheist geboren? Nun, zuerst nahm ich es an. Doch die moderne Erzählwelt konfrontierte mich mit verunsichernden Geschichten - eine davon, „Begebnis“, schrieb (erzählte) ich mir gar selbst. Die Fantasie, im Rahmen einer von Aberglauben, Mystizismus, Religionen und Spiritualität bereinigten Welt, eine Seele könne getauscht, geraubt, endgültig vernichtet oder auf ewig missbraucht werden, ruft bei mir kurze, aber heftige Momente des Unwohl-sein hervor. Bis jetzt konnte ich für mich nicht klären, ob hier eine programmierte Reaktion anspringt oder sich ein Signal aus den Tiefen des Körpergedächtnisses bemerkbar macht. Dennoch, der Tod kündigt sich im Gefühl als Horror Vacui an. Naja, der Tod beantwortet endgültig die Frage, was kommt nach dem Leben - das ist doch was. Und deshalb:

 

Bin ich Atheist? Nein, nur zu 99,999… %

Jetzt (#4)

 

„Entschuldige mal!“, drängte sich Begleiter in meine Ausführungen, Gedanken, Überlebensversuche. „Aber Jahresquartier soll nicht heißen „der Ort, wo Ihr auf der faulen Haut liegend ein Jahr lang philosophieren könnt, sondern dort stehen Euer Jahresproviant und Reiseutensilien zur Abholung bereit. Und bereitet euch gut vor, denn die Pforte verlangt eine Antwort auf die Frage: „Was habt Ihr gemeinsam?“

 

Der Missmut, mit dem meine Reisegefährten mich ansahen, machte mir klar, dass die Botschaft von allen verstanden wurde. Und Bär sprach: „Eins haben wir sicher gemeinsam, dass der Mensch ein Traumtänzer ist, mehr noch, keiner von uns mag sich mit diesem WischiWaschi vom unreligiösen nicht-ganz-Atheisten auf eine Stufe stellen – ohne ihn werden wir die Pforte schon zufriedenstellen können.“  Affe und Elefant schauten mit verdrehten Augen stumm in den Himmel, Echse und Löwe nickten zwar beifällig, betonten aber auch sofort, dass es die Sache einfacher machen würde, wenn alle dem jeweils EINEN GOTT huldigen würden. Bär brummte, Löwe brüllte, Echse zischelte, Affe schnatterte und Elefant trompetete – im Moment hätten wir höchstens gemeinsam, dass keiner dem anderen zuhört, bzw. in dem Tohuwabohu nicht kann. Also hing ich meinen eigenen Gedanken nach, das leider nicht reicht, dass alle Religionen die Existenz einer Seele voraussetzen, obwohl…

 

 

Vernetzte Netze – Netzwesen Mensch

 

  • Blutsystem - primäres Transportsystem
  • Nerven - Informations- und Kommunikationssystem
  • Das lymphatische System ist ein Teil des Abwehrsystems
  • Skelett - Das Skelettsystem bildet den passiven Teil des Bewegungsapparates.
  • Muskeln - Diese bilden die aktive Ergänzung des Knochenskeletts
  • Endokrines System - Das endokrine System ist eine Bezeichnung für alle Organe und Gewebe, die Hormone produzieren. Sie sind im ganzen Körper verteilt und können über große Distanzen Wirkung zeigen.
  • Das Selbst - Grob sind zumindest zwei Anteile zu unterscheiden, nämlich die beschreibenden Kognitionen einer Person über sich selbst (Selbstkonzept) und die Bewertung dieser Kognitionen (Selbstwertgefühl); das Selbst ist der die beiden Aspekte umfassende Begriff – ein delokalisiertes System, das auf vorgenannten Systemen basiert, ortsungebunden (im Körper) ist.
  • Jetzt (#5)

So standen wir also vor der Pforte, versorgt und reisefertig, warteten, was die Pforte zu unserer langatmigen, gemeinsamen Antwort zu sagen hätte. Aber was geschah - Affe, Bär, Echse, Elefant und Löwe lösten sich mir nichts, dir nichts in Luft auf - löste Bedauern in mir aus. Das Gefühl der Einsamkeit nahm mich in der nun mehr denn je unwirklichen Landschaft gefangen. Und die Pforte sprach: „Tritt hindurch, Du wurdest in Einsamkeit geboren, hast wie jedes Lebewesen in letzter Konsequenz in Einsamkeit gelebt. Der Tod wird dir alle Einsamkeit nehmen, alles was Du bist, wird nun dem Leben gegeben.“

An die Zeiten

Obschon Ewigkeit seiend

stürzen wir

irrsinnig vor Angst

in den Tod

da kein Werden möglich

 

Zeiten - an unser Ufer geworfen

Luft - bewusstloses Leben

unsere Mitfahren sehen den Tod

deren Angst vor dem Tod wohlbegründet

 

Es macht uns nicht zu Göttern

vollkommen, zeitlos und allwissend zu sein

die Allmacht gibt keinen Trost

alles geschieht in einem Moment, der nie vergeht

 

Auch wir wurden geboren, lebten und verstarben

empfinden Triumph und tiefste Enttäuschung zugleich

müssen Leben erschaffen, um uns am Leben zu halten

 

Dieses Wenn und Dann zehrt uns aus

um nicht völlig zu vergehen

müssen wir das Leben ignorieren

 

Doch gibt es auch für uns

dieses eine letzte Mal

geben unser Sein

für ein völlig unwahrscheinliches Werden

 

Während wir zurückstürzen

in die Zeit - durch die Zeiten

erschaffen wir uns, ohne jemals wieder wir selbst zu sein

 

Und die die leben

mögen vielleicht als Flüstern hören

was wir schmerzerfüllt an die Zeiten hinausbrüllen:

lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt lebt!